Mit den Füßen getreten, übersehen, unterschätzt - bei frühlingshaften Temperaturen und Sonnenschein bekamen am 10. März 2017 fast 20 Teilnehmer aus der AG Botanik einen faszinierenden Einblick in
die verborgene Welt der Flechten. Die renommierte Flechtenkundlerin Dr. Helga Bültmann stellte rund um das Schloss Münster auf Pflastersteinen, Mauern, Treppenstufen und Bäumen verschiedene
Flechtenarten vor, die über ihr Leben an besonders unwirtlichen Plätzen gar nicht unglücklich sind - entgehen sie doch so der Konkurrenz durch die wuchsstärkeren höheren Pflanzen.
Flechten sind eine Lebensgemeinschaft aus Pilzen und Photosynthese treibenden Grünalgen oder Cyanobakterien. „Die Flechte kann man verstehen als einen an Ort und Stelle lebenden Pilz, der nicht
mehr jagt und sammelt, sondern durch die Algen versorgt wird - die Pilze betreiben quasi Landwirtschaft“, erläuterte Dr. Helga Bültmann zur Einführung. Während die Alge auch noch frei vorkommend
anzutreffen ist, ist der Pilz auf die Alge angewiesen und kann ohne sie nicht überleben. Flechten zeichnen sich durch ein sehr langsames Wachstum von max. 0,5 cm-1,5 cm im Jahr aus, meist
schaffen sie jedoch nur ca. 0,5-1 mm. In Deutschland kommen etwa 2.000 Arten vor, davon 1.000 in NRW. Mehr als die Hälfte davon steht auf der Roten Liste der gefährdeten Arten, jedoch sind
Flechten offiziell nicht planungsrelevant und werden daher nicht gesetzlich geschützt.
Zu finden sind Flechten beispielsweise an Felsen und Steinen, wo sie konkurrenzlos sind. Neben typisch flechtenreichen Standorten wie Friedhöfen, Dachflächen und immer seltener werdenden
Natursteinmauern zeigte sich aber auch die Umgebung rund um das Schloss als flechtenreicher Standort. So präsentierte die Flechten-Expertin mehr 15 Flechtenarten unterschiedlichster Formen über
krusten-, blatt- und strauchförmig auf dem Exkursions"marsch" von vielleicht 200 m. So wuchs direkt auf dem Kopfsteinpflaster die weißlich-gräuliche, trittresistente „Kaugummi-Flechte“ Lecanora
muralis, in der Stadt überall auf den Gehwegen vorkommend. Dr. Bültmann wies zudem auf die Indikatorfunktion hin: „Flechten sind ein guter Anzeiger der Luftqualität. In der letzten Zeit sind
durch die Abnahme der Schwefeldioxid-Belastung vermehrt wieder Arten zu finden, die vor wenigen Jahrzehnten vollkommen verschwunden waren.“
Beim Blick aus nächster Nähe - am besten mit Lupe - offenbarte sich eine ungeahnte Vielfalt von Formen und Farben. Allein auf der Baumrinde einer Linde an der Promenade wurden mehr als acht
Arten entdeckt. Häufig und recht gut erkennbar ist beispielsweise die stickstoffliebende gelbe Blattflechte Xanthoria parietina mit ihren orangen Fruchtkörpern. An Bäumen sind Flechten vermehrt
auf der Regenseite zu finden, da sie als Überlebenskünstler auf die Wasserzufuhr aus Tau oder Regen angewiesen sind. Beim Austrocknen werden Flechten inaktiv und können diese Phase lange
überleben, bis wieder Wasser in Form von Luftfeuchtigkeit oder Niederschlag verfügbar ist.
Für allgemeine Heiterkeit sorgte die gelbe „Pinkel-Flechte“ Caloplaca citrina, welche als enorme Stickstoff-Liebhaberin auf Mauern bis in Höhe der Gürtellinie zu finden ist - gerne in der
Umgebung von Kneipen und "Hunde-Runden". Zudem konnten die Kenntnisse der in der Vorwoche stattgefundenen Mauerpflanzen-Exkursion an einer Treppenstufe mit dem Hirschzungen-Farn (Asplenium
scolopendrium) getestet werden.
Mit einer gemütlichen Einkehr ins Schlossgarten-Café endete der schöne und informative Nachmittag - und ab jetzt werden die Flechten auch nicht mehr übersehen und unterschätzt.
Text: Sophia Närmann
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