In diesem Winter 2023/24 fällt viel Regen aufs Land. Regen, den die ausgetrockneten Böden gut gebrauchen können. Seit November meimelt es. Und auch der Januar verspricht, dank der milden Temperaturen, buchstäblich ins Wasser zu fallen. Einige der dringend notwendigen Baumschnittaktionen verschieben sich ins trockenere Frühjahr, weil die vollgesogenen Wiesen die Leitern nicht mehr tragen wollen. Gummistiefel und Regenjacke sind ständige Begleiter. Trotz der Widrigkeiten kann das unserer Freude keinen Abbruch leisten. Wir wissen, dass das, was wir hier machen, sinnvoll ist, nicht zuletzt, um die stabile Steinkauzpopulation im Münsterland zu erhalten. Und der ist angewiesen darauf, dass diese alte Kulturlandschaft gepflegt wird.
Während Andreas Beesten mit seinem Team aus Jugendlichen, die ein freiwilliges ökologisches Jahr (FÖJ) machen, und Ehrenamtlichen die rund fünf Hektar Streuobstwiesen im Stadtgebiet im Blick behält, hat Karin Rietman Anfang Januar auf dem Münsteraner Markt die letzten Äpfel der Saison verkauft. Seit Juli steht sie schon jeden Mittwoch und Samstag am Domplatz bei Wind und Wetter und versorgt die Marktgänger*innen mit selten gewordenen alten Apfelsorten wie die Rote Sternrenette, den Freiherr von Berlepsch oder die Zuccalmaglio Renette. Treue Kundinnen erbeuten noch die weißen Winterglocken-äpfel, weil sie wissen, dass dieser Apfel bis in den Juni hinein gelagert werden kann. So überbrücken sie die Durststrecke bis zum Beginn der heimischen Apfelsaison. Manche Kundin freut sich sichtlich, die kulinarische Köstlichkeit ergattert zu haben. Ab nun fängt der ruhigere Teil des Jahres an. So glaubten wir.
Doch rüttelt uns eine Nachricht auf, die der Frühling durch die Lüfte weht: Karin Rietman, die langjährige Leiterin der Obstwiesenschutz-AG und eine Institution im Nabu-Stadtverband, verlässt das Projekt.
Schockstarre. Das geht doch nicht! Karin ist das Projekt. Seit über 25 Jahren hat sie sich um städtische Pachtwiesen gekümmert, Pflanzpläne angelegt, Strukturen aufgebaut. Der Marktstand ist bis in den hohen Norden im Alten Land bekannt. Keine weiß wie sie, welche Wiesen wie gepflegt werden, wo welche Sorten stehen, welche Netzwerke zwischen den Bauern, den Ehrenamtlichen, den Keltereien und den Vertriebsstellen bestehen. Sie weiß, von wem man im Herbst sichergehen kann, die besten Pflückäpfel für den Markt zu erstehen, oder wo man noch eine Tonne Streuobst beziehen kann, damit die nächste Pressung für den Apfelsaft gesichert ist. Bei ihr läuft alles zusammen. Ab nun heißt es, bei ihr lief alles zusammen. Und das ist endgültig.
Und nun? Steht das Projekt gänzlich in Frage? Wird es auf dem Markt mittwochs und samstags noch die Möglichkeit geben, an die letzten Schätze der Münsteraner Streuobstlandschaft zu kommen? Werden Sorten wie die Dülmener Rose, der Jakob Lebel oder die Graue Herbstrenette noch überleben, wenn sie keiner mehr kennt und kaufen kann? Und was wird aus den Lebensräumen unzähliger Vogelarten und Insekten, die wir vor Flächenfraß und intensiver Landwirtschaft zu schützen versuchen. Es geht ans Eingemachte.
Schnell wird klar, das Projekt darf nicht sterben. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Lebensraum, Vielfalt und Lebensqualität. Allen in der Arbeitsgemeinschaft ist bewusst: Es wird zwar in diesem Jahr Veränderungen geben und der Markt muss pausieren, aber wir wollen gemeinsam anpacken.
Das zeigen wir beim traditionellen Obstblütenfest in den Rieselfeldern Ende April bei Kaffee und Kuchen und viiiieeel Apfelsaft. Während die Messingwiese sich im Blütenzauber präsentiert, stehen wir mit Informationen und Beratung zu unserer Arbeit unter den Bäumen. Mit dieser Wiese hat vor 30 Jahren die Arbeit des Nabu-Stadtverbandes angefangen. Familie Messing erlaubte es den Ehrenamtlichen, die Bäume zu pflegen, Steinkauzröhren anzubringen und die Wiesenmahd durchzuführen. Als Dank erntete der Verein die Obstbäume ab und begann mit der Vermarktung des Saftes. Inzwischen hat sich die große Fläche der Abfallwirtschaftsbetreibe (AWM) als Ausgleichsmaßnahme dazugesellt, die so langsam in den Ertrag kommt. Erst vor Kurzem hatten wir dort an warmen Frühlingstagen die Baumscheiben freigeschnitten und Pflanzpfähle erneuert. Ein friedlicher Ort, wenn über den Köpfen die von Süden wiederkehrenden Störche ihre Kreise ziehen.
Ein wichtiges Signal für die ehrenamtlichen Helfer*innen ist, dass Andreas die Organisation für die Versaftung im September plant. Es geht weiter! Er tut sein Bestes, um in diese großen Fußspuren zu steigen, die Karin hinterlassen hat. Aber ohne die Hilfe der Ehrenamtlichen und des neu gewählten Vorstandes, wird das nicht einfach. Besondere Herausforderungen warten noch im Lagerraum: 5.000 abgefüllte Apfelsaftflaschen, Jahrgang 2022.
Das Mindesthaltbarkeitsdatum läuft Ende Oktober ab. Der Saft kann also kaum noch im Handel verkauft werden. Grund dafür sind unter anderem weggebrochene Händlerstrukturen. Die Geschäfte und Restaurants haben ihre festen Zulieferer, sodass ein regionales Produkt, das saisonalen Schwankungen unterliegt, keinen Platz im Sortiment findet. Selbst einige Biomärkte beziehen ihren Saft lieber vom Niederrhein als direkt aus Münster selbst. Auch die stark gestiegenen Preise haben viele Kundinnen und Kunden sensibler gestimmt. Statt einen ganzen Kasten, wird nur noch eine Flasche gekauft.
Nicht, dass der Saft sofort schlecht wäre, sobald das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht ist. Auf diese Fehlinterpretation wird zwar immer wieder hingewiesen, damit die Lebensmittelverschwendung sich in Grenzen hält. Aber wer kauft schon eine solche Flasche, wenn er eine frischere haben könnte? Die Zeit drängt also.
Neue Ideen müssen her: Dank der Teilnahme am Viertelfest in Mauritz, dem Park(ing)-Day an der Wolbecker Straße und einem Verkostungsangebot in der Rewe-Filiale am Ring nehmen sich Interessierte die ein oder andere Flasche für den guten Zweck mit nach Hause. Aber das reicht noch nicht.
Nun bleibt nur noch die Weiterverarbeitung: Und da finden sich plötzlich Kooperationen ganz unterschiedlicher Akteure für eine sinnvolle Verwendung. Die Betreiber*innen des Marktstandes „Küchenschätze“ kochen aus einem Teil des Saftes Fruchtaufstriche. Elias Eckel, passionierter Koch der Achilleeze, stellt in den Räumen von Haus Coerde Fruchtbrot her, das auf dem Weihnachtsmarkt verkauft werden soll. Eine Spende geht an die Münsteraner Tafeln.
Pünktlich zum neue Apfeljahr Ende August sind endlich wieder Flaschen frei, die dringend für die neue Ernte benötigt werden. Aus allen Ecken Münsters sammeln wir unsere Leergutflaschen ein. Die ersten Äpfel von den Münsteraner Wiesen und bei dem Sammeltermin am Raiffeisenmarkt in Sprakel bescheren uns ungefähr 3 Tonnen Klaräpfel, Gravensteiner, Croncels, Ingrid Marie und Dülmener Rose. Es duftet herrlich! Die Kelterei Lauwerth presst daraus den ersten Saft des Jahrgangs 2024 und füllt ihn auf Flasche. Aus ökologischen Gründen sind wir nicht auf das beliebte und oft nachgefragte Bag-in-Box-System umgestiegen. Der Pappkarton kann zwar über das Recyclingsystem wiederverwendet werden, doch der Plastikschlauch im Inneren bleibt Abfall. Die Mehrwegflasche dagegen wird bei der Kelterei gereinigt und wiederverwendet.
Das Apfeljahr steckt nun in der arbeitsreichsten Phase: Ernte sei Dank. Damit noch mehr Menschen im Münsterland von den schmackhaften Leckerbissen der Streuobstwiesen erfahren und den Wert der Ökosysteme für die Natur erkennen, nehmen wir im September beim Hoffest Schulze Buschhoff in Handorf und eine Woche später am Mühlenhof am Aasee teil.
Unsere Pomologen haben alle Hände voll zu tun, um unbekannte Sorten zu bestimmen. Leidenschaftliche Diskussionen entfalten sich über Fachliteratur und Anschauungsobjekten. Welche Deckfarbe hat der Apfel, ist er geflammt oder der Rost zimtfarben? Wie tief ist die Stielgrube und hat die Kelchgrube Fleischperlen? Nein, eine Rote Sternrenette kann es nicht sein; die Lentizellen (Atemöffnungen auf der Schale) sind nicht so stark berostet: also eher ein Gloster von der Form her. Für Nicht-eingeweihte sehen diese äußeren Merkmale ziemlich ähnlich aus. Doch mit etwas Forschergeistes wird ein Teil der mitgebrachten Äpfel schon in der Sortenausstellung wiedererkannt. Und dank des Verkaufsstandes kann man kiloweise der Raritäten zu einem fairen Preis mit nach Hause nehmen.
Der Vorteil unseres Obstes ist zugleich auch sein Nachteil: Es wird nicht gespritzt. Wir nehmen also in Kauf, dass Insekten und Vögel einen Teil der Ernte verspeisen oder Krankheiten den Bäumen zu Leibe rücken und für Ausfälle sorgen. Selbst „Bio“ zertifiziertes Obst wird gegen Krankheiten mit Kupferpräparaten behandelt. Eine Zertifizierung wäre für uns möglich, ist allerdings sehr teuer. Zudem sehen unsere Obstsorten sehr individuell aus. Von den gut 30 Apfelsorten, die wir bewirtschaften, finden sich kaum welche im konventionellen Handel. Nur der Boskoop oder der Elster kennt man aus dem Supermarkt. Die Steuobstäpfel sind dagegen nicht normgerecht, sind entweder zu klein, zu groß, zu grün, zu gelb, zu rot, zu lang, zu bauchig, zu mürbe, zu krumm, zu verwachsen. Dafür überzeugen sie mit ihrer erstaunlichen Aromenvielfalt, wenn sie die richtige Genussreife erreicht haben. Man unterscheidet dabei den Pflückzeitpunkt von dem Zeitpunkt, an dem der Apfel gegessen werden kann. Manche, als Tafeläpfel ausgewiesene Sorten, können direkt vom Baum gegessen werden. Bei anderen, meist sind es die etwas späteren Sorten im Jahr, entfaltet sich das Aroma erst nach einer gewissen Zeit der Lagerung. So schmeckt der Rote Bellefleur direkt nach der Ernte im Oktober grasig und fade, wohingegen sich ab Mitte Dezember bis in den April hinein ein reichhaltig florales Aroma entwickelt.
Eine Apfelallergikerin kommt ganz erleichtert zum Marktstand und berichtet, dass sie hier endlich einen Apfel gefunden hat, den sie vertragen kann. Und welcher ist es? Natürlich der unscheinbarste: die Graue Herbstrenette.
Die Sammelaktionen gehen weiter. Auch in Havixbeck Mitte Oktober kommen gut 4 Tonnen Äpfel zusammen. 1,6 Tonnen davon steuern unsere Pachtwiesen im Norden Münsters bei. Zu diesem Sammeltermin kommen über 20 Freiwillige auf die wunderschöne, alte Streuobstwiese am Schloss und genießen den goldenen Oktobersonntag mit Schütteln, Bücken, Aufheben. Wer braucht da noch das Fitnessstudio?
Mit diesen wärmenden Eindrücken von duftenden Apfelwiesen in der Herbstsonne schließen wir die Ernte 2024 ab. Bleibt uns noch, Bilanz zu ziehen, über ein Jahr, das uns in vielerlei Hinsicht herausgefordert hat. Und dafür ist es besser gelaufen, als es zuerst aussah. Es gibt den Nabu-Stadtverband noch, und auch die Obstwiesenschutz-Ag ist noch aktiv. Aus einigen anderen Arbeitsgemeinschaften haben wir Unterstützung bekommen. Ein, zwei neue Ehrenamtliche konnten wir begrüßen. Für manche Freiwilligen waren die Aktionstage sehr motivierend, gab es doch ein positives Feedback für unsere Mühen. Nun müssen wir entscheiden, wie es weiter geht und was wir wollen.
Der Marktstand liegt vielen am Herzen. Momentan überbrücken zwar der Handorfer Obsthof oder der Obstgarten am Bohlweg mit dem Verkauf unserer Äpfel die Lücke, die der Marktstand hinterlässt. Aber der Marktstand war mehr als nur eine Verkaufsstelle. Er war der Ort, an dem Geschichten erzählt wurden, wo junge und alte Generationen aufeinandertrafen und in den Austausch kamen. Hier konnten Schatzsucher fündig werden und Mutige sich überraschen lassen. Die Erleichterung und Freude der Suchenden waren ansteckend, wenn endlich der Apfel der Kindheit wiederentdeckt wurde oder nach Jahren das Kribbeln auf den Lippen verschwunden war, weil die allergische Reaktion nicht einsetzte. Und es war eine Art der Wertschätzung dessen, was viele fleißige Hände in den Jahren in Münster aufgebaut haben.
Bleibt noch zu sagen: Wir wünschen uns, dass mehr Engagierte uns auf den Wiesen und im Verein tatkräftig unterstützen könnten, diesen Teil Münsters zu erhalten. Es sind alle willkommen, die Lust haben auf Bewegung an frischer Luft, die mit sonnigen Gemütern und witzigen Käuzen Kulturtechniken pflegen und Wissenswertes über ökologische Vielfalt lernen wollen. Zur Unterstützung tragen auch verantwortungsbewusste Verbraucher*innen bei, die auf den Ursprung der Lebensmittel achten und ihnen mehr Wert beimessen. Und es sind auch Entscheidungsträger*innen der Stadt, im Handel, der Gastronomie und im Verein selbst, die dieses Projekt weiter am Leben erhalten können.
(Ein Artikel von Astrid Pieper, Ehrenamtliche in der Obstwiesenschutz-Ag des Nabu-Stadtverbands Münster)